Wie der Esel so der Schneider oder vom "moralischen Pakt"

18. Apr 2021
Irene Briner

Wie der Esel so der Schneider oder vom «moralischen Pakt»

Mit meinen Faltkarten versuche ich, Geschichten auf den Punkt zu bringen.

Dafür suche ich in den Geschichten die treibenden Motive.

In den vier Märchen «Der Froschkönig», «Der gestiefelte Kater», «Die Bremer Stadtmusikanten» und «Das tapfere Schneiderlein» denke ich, dass das Motiv «Nein, mit mir nicht!» zentral ist.

Sowohl die Prinzessin, wie auch der Kater, der Esel und das Schneiderlein akzeptieren nicht, dass andere aus und mit ihnen etwas machen, was sie selbst nicht wollen. Etwas, das auch in der Wahrnehmung der Leserinnen und Zuhörer moralisch ungehörig ist.

In seinem Buch «Verkommene Söhne, missratene Töchter – Familiendesaster in der Literatur» (welch wunderbarer Titel!!!) hat der emeritierte Literaturprofessor Dr. Peter von Matt sein literaturtheoretisches Prinzip des moralischen Pakts vorgestellt.

Wenn wir einen der oben genannten Märchentexte lesen, treten wir damit auch einem Wertesystem gegenüber.

Von Matt schreibt dazu: «Der Vollzug der Lektüre, und das ist das literaturtheoretisch Entscheidende, führt nun aber nicht einfach dazu, dass für den Leser ein moralischer oder ethischer Normenzusammenhang sichtbar wird, von dem er halten kann, was er will. Vielmehr ist es so, dass alle Lust und alles Vergnügen, die vom Text offeriert werden, nur zu gewinnen sind, wenn der Leser zu dem Normenzusammenhang JA (Hervorhebung IB) sagt. Der moralische Pakt ist also ein wichtiges Ingrediens der Texterfahrung, und «Pakt» wird er genannt, weil er zu gleichen Teilen aus einer Aktivität des Textes und aus einer des Lesers besteht. Er beruht auf empirisch erforschbaren und nachweisbaren Gegebenheiten des Textes.»

Und weiter schreibt von Matt: «Nur wenn sich der Leser mit dem Text darüber einigt, in einem lautlosen Pakt, dass von nun auf dies gehofft, jenes aber befürchtet werde, dass um diesen Menschen gebangt, jenem andern aber alles Mögliche an den Hals gewünscht werde, nur wenn solche Abmachung geschieht, denkend und fühlend, kann das Genusspotential des Textes im Vollzug des Lesens ausgeschöpft werden.»

Wenn ich mich nun ab und zu aufmache, Märchen auf den Punkt zu bringen, um sie später punktgenau illustrieren zu können, dann versuche ich herauszufinden, welchen moralischen Pakt ich als Leserin bei der Lektüre der ausgewählten Texte mit eben diesen Texten eingehe.

Habe ich mich jeweils zum «richtigen» moralischen Pakt verführen lassen?

Ist dieser moralische Pakt das treibende Motiv einer Geschichte, das ich für meine punktgenauen Illustrationen suche?

Interessantes zum Begriff «Motiv» ist u.a. hier zu finden:

https://de.wikipedia.org/wiki/Motiv_(Literatur)

Wikipedia-Eintrag zu Prof. Dr. Peter von Matt:

https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_von_Matt

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