Laudatio - Menschen, drunter, drüber, dazwischen...

20. Mai 2019
Irene Briner

Liebe Betty, lieber Franzsepp, liebe Gäste

Die Bilder und die Skulpturen an diesem unfassbar, schier schmerzhaft schönen Ort wühlen mich auf, verwirren mich.
Ist dieses Verwirrtsein so etwas wie ein Mahnmal meiner persönlichen Vielfältigkeit? Ich bin nicht eindeutig – ich bin ja ein Mensch; also ein Frau.
Manchmal bin ich vielleicht auch darum zwischen Tür und Angel, manchmal auf der Schwelle oder unter dem Tor, manchmal unterwegs, manchmal auf der Flucht, manchmal will ich nichts wie weg, manchmal bin ich eingeengt, manchmal will ich über meine Grenzen hinaus, manchmal stehe ich auf einem Gipfel, manchmal bin ich im Keller, manchmal will ich mit dem Kopf durch die Wand, manchmal bin ich gefangen in meinem Gedankennetz, manchmal bringe ich alles auf den Punkt  und sehr häufig bin und tue ich vieles gleichzeitig.

Geht es Ihnen auch so?

Müssen wir damit leben?

Was oder wer hilft uns, damit wir uns in unserem Verwirrtsein nicht verirren?

Hier in der Galerie Marlène und in dieser von ArteNA inszenierten und kuratierten Ausstellung zum 75sten Geburtstag von Franzsepp Kissling ist es zum Glück doch nicht ganz so schwierig.

Denn es gibt einen Helfer.

Er steht hinter dem Haus auf der Wiese. Man sieht ihn kaum. Obwohl er aus Eisen ist.

„Le Passeur“ ist auf den ersten Blick „nur“ eine Skulptur von Betty Hanns.

Aber er ist natürlich mehr als das:
Er ist wortwörtlich der Fährmann, der dafür sorgt, dass unser Boot des Lebens nicht untergeht, dass es am anderen Ufer ankommt, dass es sich im Wellental nicht überschlägt und auf dem Wellenberg nicht sein Gleichgewicht verliert.

Er ist unser Retter in und der Fluchthelfer aus der Not.

Dem Passeur können wir vertrauen. Man sieht ihn ja kaum, er drängt sich nicht auf, ist diskret, er respektiert uns und unsere Gefühle, er wahrt die richtige Distanz und überschreitet unsere Grenzen nur dann, wenn wir das auch wirklich wollen.

Er kennt den richtigen Ort und die richtige Zeit.

Und er ist hart im Nehmen.

Getrost können wir seine Hand nehmen oder ihm unsere Hand geben. Wir können uns von ihm durch die Ausstellung führen lassen.
Und dabei nicht nur unsere eigenen Grenzen überschreiten.

Der Passeur steht symbolisch auch für Geschichten von menschlichen Erfahrungen an Übergängen, an Grenzen, vor Mauern, in Netzen, in Booten, zwischen Himmel und Erde, unterwegs, im und auf dem Lebens- oder Hamsterrad, in der Mülltonne, beim Liebestanz, in der Tafelrunde, beim Tratschen oder im grünen Bereich.

Die hier ausgestellten Werke von Betty Hanns und Franzsepp Kissling spiegeln all diese menschlichen Erfahrungen und die damit verbundenen Emotionen. Und das nicht nur in ihren Werktiteln.

Menschliche Erfahrungen und Emotionen sind die Grundmotive in jedem Bild und in jeder Skulptur. Sie sind sichtbar gemachte Geschichten, gefasst in der Sprache der jeweils technischen Möglichkeiten.

Und Franzsepp und Betty reizen diese technischen Möglichkeiten aus. Bis über ihre Grenzen hinaus.

Es gibt immer ein Drunter und Drüber, ein Dazwischen und ein Mittendrin.

Und das ist eindeutig mindestens zweideutig:

Einerseits in den unterschiedlichen und oft auch gegensätzlichen Materialien, die in und zu den Kunstwerken verarbeitet sind.

Bei Franzsepp kommen neben Drucken von extrem veränderten Fotos, Fundgegenstände, Steinmehle, Holzstücke, Stoffe oder weiss der Kuckuck was auf die Leinwand. Und neuerdings verarbeitet er auch Kaltnadelradierungen und damit seinen handwerklichen Ursprung in seinen Bildern.

Franzsepp ist ein regelrechter und sehr genauer Schichter und Schichtarbeiter. Immer wieder werden Teile eines Bildes übermalt, wird etwas über eine Stelle geklebt, wird etwas weggeschabt und neu gestaltet.
Manche seiner Bilder werden so zu Flachreliefs.

Und ja, man kann diese Schichten anfassen, sie tasten und fühlen. Oft fühlt es sich an wie aufgeraute oder rissige Haut. Und dann weiss man, dass da noch etwas darunter ist. Dass sich noch eine andere Geschichte unter der sichtbaren Schicht versteckt. Und diese Geschichte will entdeckt werden.

Sie, geschätzte Gäste, können sich getrost in ein Bild von Franzsepp hinein wagen – der Passeur ist ja bei Ihnen.
Lassen Sie sich ein auf die Bilder, und lassen Sie sich anschauen von ihnen. So kommen Sie an diesem ganz normalen Sonntag zu ihren Grenzerfahrungen.

Damit sind wir schon fast beim Andererseits.
Fast!

Denn einerseits sind auch von Betty Hanns sehr gegensätzliche Techniken und Materialien zu Skulpturen verarbeitet worden:
Betty findet beim Altmetall oder beim Schrotthändler Stücke von verrostetem, brüchigem, löchrigem, ausgefranstem Eisen. Davon lässt sie sich inspirieren. Manche Geschichten drängen sich von solchen alten Eisen geradezu auf.

Das Alteisen wird mit grosser Hitze der Idee angepasst.

Und dann kommen die Menschen dazu.

Auch sie sind geschichtet: Dünne Eisenstäbe, Drähte, feine Gitternetze sind ihre Skelette. Das Fleisch und die Haut sind aus Papier und Kleister. Zuletzt werden die Figuren mit Holzbeize veredelt.

Die Montage einer Skulptur ist komplex. Denn Eisen braucht zum Formen grosse Hitze – also Feuer und Flamme. Das verträgt das mit Kleister samtweich vermischte Papier nicht wirklich gut.

Darum: Alles, was geschmiedet werden muss, kommt zuerst. Sonst ist am Ende nichts.

Schauen Sie sich die vertikalen Skulpturen hier im grossen Raum ganz genau an. Dann können Sie einigermassen ermessen, wie sie aufgebaut sind.

Sorgfältiges Berühren ist erlaubt und gewünscht.

Stahlhart und hauchzart – Widerspruch pur und grenzüberschreitend!

Andererseits erzählen die Werke von Franzsepp und Betty das Drunter und Drüber, das Dazwischen, das Mittendrin und vor allem auch das Grenzwertige des menschlichen Seins und Zusammenseins symbolisch und exemplarisch.

Die Exempel statuieren beide in Erzählungen. Es sind Geschichten von all dem, was uns Menschen in unserem Zusammenleben ergreift, was uns antreibt, umtreibt, verwirrt, zum Verzweifeln bringt, was uns freut und tief bewegt.

Betty und Franzsepp haben mit ihren künstlerischen Mitteln all unsere Emotionen fassbar gemacht. Und sie geben uns dadurch die Möglichkeit, dass wir uns und unseren Gefühlen stellen und in den Spiegel schauen können. Und dann können wir das, was wir sehen, mit uns und mit anderen diskutieren.

Vielleicht, damit wir begreifen, was uns ergreift.

Die Bilder und Skulpturen sind also weit mehr als das, was wir auf Anhieb sehen.

Sie sind voller Symbole. Und diese lösen Assoziationen aus und setzen Denkprozesse in Gang.

Kopfkino!
Geschichten!

Mit jedem Bild, jeder Skulptur eine weitere Dimension, eine Ebene darunter, dahinter, darüber.

Und vor allem auch dazwischen.

Darum: Beachten und achten Sie die Zwischenräume.

Zwischen mir und einem Bild oder einer Skulptur ist ja immer auch ein leerer Raum. Ein Niemandsland. Hier stehe ich und hinter dem Niemandsland ist das Bild oder die Skulptur. Das Werk hat seine Grenzen und ich habe meine Grenzen. Der Zwischenraum ist quasi der neutrale Bereich, das Unantastbare, das, was nicht in Frage gestellt wird.

Vielleicht ermöglicht uns genau dieser Freiraum, unsere Gedanken spielen zu lassen?

Da es in der ganzen Galerie nur so wimmelt von diesen Freiräumen, möchte ich sie nicht länger gefangen nehmen mit meinen Worten. Obwohl es noch mindestens 1001 Sache zu sagen gäbe zu den Bildern und Skulpturen und dazu, was die alle mit mir machen.

Da sind zum Beispiel die Zwei, die oben an der Treppe auf einer Schrott-Düne sitzen und zum Horizont schauen. Sind sie hier zuhause? Sind es Migranten, die aus ihrem Zuhause geflohen sind? Bin nicht auch ich immer irgendwie eine Migrantin? Schauen die beiden dorthin, wo sie hingehen wollen, oder dorthin, woher sie herkommen? Haben sie Heimweh oder Zukunftsangst? Habe ich das nicht auch jeden Tag?

Oder da ist die Portraitmontage von Franzsepp im „Stall“ unten. Das Bild von der Einladungskarte. Was denkt die Frau auf dem Bild. Hat sie Blumen im Kopf? Oder sind es Frauenmenschen? Sehe ich pralle, rote Lippen oder das Lebensboot?  Und ist es nicht unglaublich, dass direkt daneben die Skulptur von Betty steht, die eindeutig ausdrückt, hei, jetzt komm ich zuerst?

Und stehen nicht neben einer weiteren Portraitmontage drei Typen auf wackligem Untergrund? Ziemlich nonchalant der eine. Der in der Mitte wirkt schon etwas bedrängt und der rechts aussen wird mit Sicherheit stürzen.

Wenn ich genau hinschaue, dann blickt der Nonchalante von Betty ziemlich dreist auf die portraitierte Dame von Franzsepp. Findet er es absurd, dass sich mitten durch ihr Gesicht ein Menschenband windet?

Aber hallo! Wie kann er da nur so dreist gucken und sich dabei erst noch auf seinen Kumpel abstützen? Ich merk, ich reg mich grad auf! Und verstehe gleichzeitig, wie symbiotisch und dialogisch die ganze Ausstellung aufgebaut ist.

Doch, genug ist genug!

Liebe Gäste, gehen Sie doch einfach selbst durch die Ausstellung und lassen Sie sich anmachen von den Bildern und Skulpturen!

Schauen Sie! Und das genau! Mit allen Sinnen!

Spielen Sie! Freuen Sie sich!

Nehmen Sie Platz in der Tafelrunde und tauchen Sie ein in die ganz andere und längst vergangene Welt von Franzsepp oder belauschen Sie die drei Flüsterinnen neben dem Cheminée von Betty.

Und lassen Sie sich berühren, locken und verwirren!

Und seien Sie immer auch vergewissert: Draussen wartet der Passeur auf Sie. Nehmen Sie seine Hand und lassen Sie sich von ihm durch die Ausstellung führen.

Dann fällt Ihnen das Grenzen-Überschreiten bestimmt leichter.

Lieber Franzsepp, von ganzem Herzen danke ich Dir, dass Du an mich gedacht hast und mir dadurch die Möglichkeit gegeben hast, meine verbalen Grenzen wieder einmal auszuloten.

Dir liebe Betty danke ich herzlich für den Passeur-Steilpass. Grenzen, Übergänge und alles, was dazwischen ist, sind genau das, von dem ich mich gerne herausfordern lasse. Und das, wovon ich gerne und immer wieder erzähle.

Und vielen, vielen Dank euch beiden für eure Kunstwerke.

Ihnen, geschätzte Gäste, danke ich für Ihre Aufmerksamkeit.

Gehen Sie jetzt! Der Passeur wartet…und wer weiss schon, wie lange noch…

Irene Briner, Lobrede für Franzsepp Kissling und Betty Hanns zur Eröffnung der Ausstellung in Ottenbach, 19. Mai 2019

2Kommentare

  • Julia
    22.05.2019 06:54 Uhr

    Danke!

  • Ernst Blumenstein
    23.05.2019 12:07 Uhr

    Liebe Irene,
    ich habe die mit Verve verfasste Hommage an die beiden Kunstschaffenden mit Begeisterung gelesen und bin dabei regelrecht, ohne die Ausstellung schon gesehen zu haben, in die Welt der Künste versunken. Ich danke dir für die Bereicherung und Achtung, die du beiden Künstlern zu Recht zukommen lässt. Ernst

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